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Monday, July 6, 2020

Violine und Vogel tirilieren - Süddeutsche Zeitung

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Prall scheint die Sonne an diesem Sonntagabend auf den Platz vor dem Bürgersaal. Auf dem erhöhten Absatz vor der Glasfront des Gebäudes haben die Musiker des Ensembles Haar für ihre Anspielprobe Aufstellung genommen. Nur ein paar Schäfchenwolken sind am Himmel zu sehen. Dem späteren Open-Air-Konzert, das erste nach einer längeren corona-bedingten Spielpause des Orchesters, scheint nichts im Wege zu stehen. Unten auf dem Platz füllen sich allmählich die circa 100 Stühle mit Zuschauern. Die Verteilung der Plätze mutet ein bisschen so an, wie die Anordnung der Steine, die man beim Brettspiel "Dame" auf den Feldern auslegt - schön mit Abstand, einer zum anderen. Aber die Gesamtinszenierung von Vivaldis "Vier Jahreszeiten" einschließlich der "Hygiene-Auflage" fürs Publikum - ohne Pause, ohne Getränke, aber Gott sei Dank auch ohne Mund-Nasen-Maske, all das kann die Stimmung nicht im Geringsten trüben. Live-Musik, das ist mal wieder etwas anderes. Nach kurzer Ansage von Dirigent Winfried Grabe, dass man froh sei, nach dem ausgefallenen Frühjahrskonzert, wieder für Zuhörer zu spielen, geht es los. Ein farbenfrohes russisches Volkslied mit Variationen von Glasunow, Rimsky-Korsakov, Ljadow und anderen macht den Auftakt, bevor die "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi folgen. Sicherlich eines der meistgespielten Werke der Klassik. Aber, was ist eine noch so perfekte CD-Aufnahme, eingespielt von einem internationalen Großstar, gegen das einmalige Erlebnis solch eines Live-Konzerts? Als zusätzlicher Basso-Continuo-Spieler ist der Lautenist Helmut Weigl mit von der Partie. Er beginnt den Frühling mit der Barockgitarre und wechselt später zur langhalsigen Theorbe - ein ganz eigener Zusatzeffekt. Violinist Grabe indes erweist sich als souveräner Solist, ob in den virtuosen Partien, oder den langsamen, getragenen Momenten. Das Zusammenspiel mit dem Orchester gelingt mit der Gelassenheit, die Open-Air-Auftritte auch bedingen. Es gibt Momente der Ablenkung, besonders als von der nahen Kirche her das ausführliche Abendläuten herüberschallt. Aber auch faszinierende Interaktionen, als ein Vogel das Tirilieren der Solovioline im Sommer aufgreift. Und es gibt Momente musikalischer Konzentration, etwa als das Orchester das Gewitter herunter donnert. Der weitere Verlauf des sommerlichen Abends ist perfekt für den Wechsel der Stimmungen, aber auch ein bisschen zu viel des Guten für Musiker und Instrumente. Dem Vivaldi'schen Sinn für Dramatik entspricht, das der eine oder andere Musiker mit dem Kreislauf zu kämpfen hat und während der Vorstellung dezent hinausgehen muss, um nach kurzer Abkühlung wieder zurück zu kommen. Am bittersten trifft es den Kontrabassisten Clemens. Sein Instrument macht einen großen "Plopp", der sich wie der Riss einer Saite anhört. Aber es stellt sich heraus, dass es ein Riss im Holz ist. Der "Herbst" kommt jedenfalls zu spät. Endlich steht die Sonne tiefer. Die Schatten ziehen an der Glasfront des Bürgersaals hoch. Passend zu den dunkleren Klängen der dritten Jahreszeit. Und zum "Winter" wird dann auch die allmähliche Kühle des Abends spürbar. Eine großartige Wiederkehr des Ensembles Haar, das den herzlich beklatschten Abend mit einer sprühenden Streicher-Polka abschloss.




July 07, 2020 at 02:21AM
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Haar

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